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Der Anruf erreichte mich am Montagnachmittag.

„Herr Schrader, packen Sie bitte Ihre Sachen und machen Sie sich auf den Weg nach London!“

Es war der 17. Juni 1985.

Ich hatte eigentlich eine Woche Urlaub, in der ich einen Teil der freien Tage abbummeln wollte, die sich schon seit meinem Eintritt als Cheffotograf bei der dpa am 1. April angesammelt hatten. Ich hatte seitdem jeden Tag gearbeitet. Die telefonische Aufforderung, nach London zu fliegen, kam vom Chefredakteur der dpa persönlich.

"Die Akkreditierung für Sie ist hinterlegt. Sie werden beim Auslandskollegen der dpa wohnen, die PA-Kollegen werden sich um Ihre Filme kümmern, abends können Sie in deren Räumlichkeiten Ihre Bilder noch ausarbeiten.“

 

Der Chefredakteur entsandte mich zu einem Einsatz, der bei mir Herzklopfen hervorrief. Die All England Lawn Tennis Championships 1985 standen an, auch bekannt als das jahreszeitlich dritte Grand Slam Turnier im Welttennis nach den Australian und French Open. Alle Welt kennt dieses Tennisturnier nur als die Wimbledon Championships. Ich hatte drei Olympische Spiele fotografiert bis dato, zwei Fußballweltmeisterschaften und -Europameisterschaften. Aber eben noch nie jenes Ehrfurcht einflößende Turnier im Südwesten Londons, das auf Rasen ausgetragen wird.

„Ein junger Deutscher namens Boris Becker hat am Sonntag in Queens das Vorbereitungsturnier gewonnen, da müssen wir in Wimbledon ein eigenes Auge auf ihn haben. Sie bleiben solange, wie er im Turnier steht,“ begründete der Chefredakteur seine Entscheidung. „Ach ja, bei der Gelegenheit fotografieren Sie doch bitte auch alle EPA-Spieler und eine gewisse Stefanie Graf.“

 

Mit EPA-Spielern meinte er alle jene Athleten, an denen die europäischen Partneragenturen der dpa interessiert waren, also alle Italiener, Franzosen, Spanier, Holländer, Belgier, Luxemburger, Österreicher, die am Start waren.

 

Was der Chefredakteur verschwiegen hatte bzw. mir nicht klar war:

der dpa-Korrespondent lebte im Norden Londons, Wimbledon liegt tief im Süden, die Press Association (PA) damals an der Fleet Street im Zentrum der Stadt. Allein die Entfernungen fraßen mein Zeitbudget für Schlaf.

 

Als ich am Mittwoch, 19. Juni 1985, die Anlage in Wimbledon betrat, schlug sich der rothaarige 17jährige Boris Becker auf einem Nebenplatz ein. Ich stellte mich zu seinem Trainer und seinem Manager und mich vor, am Ende des Trainings auch dem jungen Spieler.

 

„Ich darf nur so lange bleiben, wie Sie im Turnier stehen und ich habe noch nie ein Finale in Wimbledon fotografiert“, sagte ich ihm.

„Ich versuche mein Bestes!“, antwortete Boris Becker.

Wir gaben uns darauf die Hand.

Am 7. Juli 1985 begann
um 15 Uhr das Finale -
Boris Becker war dabei.

Ich auch.

Meine Finalteilnahme stand allerdings schon nach dem Viertelfinale fest, als mir die dpa bedeutete, mich in Wimbledon unabhängig vom Turnierausgang bis zum Ende zu belassen: meine Bilder seien einfach zu gut.

15 Tage lang hatte sich Boris Becker durch das Turnier geackert, gekämpft, geschlagen, gespielt und gesiegt. Ich hatte jeden seiner Auftritte, jede Bewegung verfolgt und fotografiert. Wir hatten zwischendurch auch kurze Begegnungen, in denen wir uns abklatschten. Die meiste Zeit mit Mitgliedern seiner Entourage, wenn ich sie traf, verbrachte ich allerdings mit seinem Manager. Ich habe Ion Tiriac als einen hochspannenden und faszinierenden Menschen kennengelernt.

Das Finale begann und ich wusste: ich brauche ein paar schnelle Aktionen für die Zeitungen. Und dann wartest Du im Prinzip das Geschehen ab. Reaktionen und spektakuläre Aktionen, Jubel und Trauer am Ende. Pokalzeremonie.

Im dritten Satz sagte ich mir: „Wenn Du ein anderes Bild von Boris haben willst, als immer nur Aufschlag, Vorhand, Rückhand, dann musst Du jetzt etwas anderes tun.“ Und so griff ich nach einem Ballwechsel nach meiner Kamera mit der 180 mm Optik.

Ich hatte drei Kameras bestückt 600 mm, 300 mm, 180 mm. Die lichtstarken Zooms, mit denen man diese Bereiche heute abdecken könnte, gab es damals noch nicht. Autofokus auch nicht.

Boris Becker hatte Aufschlag, eine Aktion, die ich für gewöhnlich mit der 600mm verfolgte, wo die neben mir postierten Kollegen mit der 400mm arbeiteten.
Ich zwang mich förmlich, die 180er beizubehalten und fokussierte auf den Bereich der T-Linie in Erwartung seines Aufschlags und einer folgenden Netzattacke.

Eine analoge Spiegelreflexkamera hat einen „Blackout“- Moment. Wenn Sie auf den Auslöser drücken, klappt der Spiegel hoch, der Verschluss läuft von links nach rechts in der eingestellten Geschwindigkeit und der Spiegel klappt wieder herunter. In dieser Zeit sehen Sie durch den Sucher Ihrer Kamera schwarz im wahrsten Sinne des Wortes.

Ein bewegtes Objekt hat sich in dieser Zeit aus dem Schärfebereich einer langen Linse heraus bewegt, wobei dafür wenige Zentimeter Bewegung genügen.

Mit der Erfahrung eines geübten bzw. Sportfotografen wissen Sie: ein bewegtes Objekt kann sich auch in die Schärfe hinein bewegen.

Diesen Moment gilt es zu antizipieren. Boris schlug auf, sprintete zum Netz, wurde von seinem Finalgegner Kevin Curren passiert – und hechtete nach dem Ball.
Als er in meine Richtung sprang, war er unscharf. Und ich löste aus, während ich am Objektiv instinktiv drehte. Als es wieder hell wurde im Sucher, war er wieder unscharf. Und ich wusste instinktiv: ich hatte den Moment erwischt. Und das Bild musste aller Erfahrung nach auch scharf sein. Mit einem anderen Objektiv hätte ich diesen Moment nicht fotografieren können.

Es war heiss am 7.7.1985, knapp 40 Grad herrschten unten im Fotograben. Und ich fror minutenlang in Schockstarre. Mit einer Ganzkörpergänsehaut verfolgte ich den Rest des Spiels wie in Trance, mit den routinemäßigen Bildern. Erst beim Jubel und der anschließenden Siegerehrung war ich wieder „wach“. Boris schaute mir direkt in die Kamera und küsste den Pokal zärtlich, als ich ihn darum bat.


 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


Wie scharf mein Bild war, erfuhr ich erst zwei Tage später, als mich der Bildredakteur Jürgen Dürrwald aufgeregt anrief und er meine entwickelten Dia-Filme in der Hand hielt.

Meinen Urlaub ließ ich mir Ende des Jahres ausbezahlen.

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